Schüsse auf Zwölfjährige in Bochum: Erst schießen, dann überlegen?

Nach den Schüssen auf ein zwölfjähriges Mädchen in Bochum veröffentlichte ihr Anwalt nun eine Stellungnahme und nimmt die Neutralität der Polizeibehörden ins Visier.

In Bochum haben Polizisten am 17. November in einer Wohnung einer gehörlosen Zwölfjährigen in den Bauch geschossen. Ihr jetziger Zustand sei „kritisch, aber stabil“ so die Polizei am Dienstagmorgen. (25.11.). Nun veröffentlichte der Anwalt des Mädchens eine Stellungnahme, und nimmt die Neutralität der Polizeibehörden ins Visier.

Was ist passiert?

Das Mädchen war aus ihrer Wohngruppe in Münster, wo sie lebt, verschwunden. Ihre Betreuer alarmierten daraufhin die Polizei, weil sie auf lebenswichtige Medikamente angewiesen sein soll. Weder bei der Familie in Bochum noch in der Wohngruppe war sie am Sonntag aufzufinden und wurde als vermisst gemeldet. Erst in den ersten Stunden am Montag tauchten sie an der Wohnung der Mutter auf, wo sich der Vorfall ereignete.

Als die Polizisten sich sodann zur Wohnung der Mutter begeben hatten, kam es nach der Darstellung der Polizei zu folgendem Geschehen, (…) „die Mutter öffnete den Beamten gegen 1:30 Uhr die Tür. Während der Sachverhaltsklärung und dem Absuchen der Wohnung trafen die Einsatzkräfte auf die 12-Jährige, die mit zwei Messern in der Hand auf die Polizisten zu gegangen ist. Um einen drohenden Angriff mit den Messern abzuwehren, setzten die Polizisten nach erstem Erkenntnisstand zeitgleich das Distanzelektroimpulsgerät (DEIG) und die Schusswaffe ein.“ Die Mutter habe versucht, die Polizisten nicht in die Wohnung zu lassen, woraufhin sie fixiert worden ist und ihr Handschellen angelegt wurden. Im Stern berichtete (sh.: www.stern.de/panorama/bochum–mutter-aeussert-sich-zu-polizeischuessen-auf-gehoerloses-maedchen-36558768.html) die gehörlose Mutter, dass sie von den Polizisten zu Boden gerissen worden ist, als sie ihrer Tochter zur Hilfe eilen wollte und dann die Schüsse gefallen sind. Die Polizei traf das Kind mit der Schusswaffe direkt in den Bauch. Das Mädchen schwebte für mehrere Tage in Lebensgefahr, musste notoperiert werden und jetzt eine Woche danach gilt ihr Zustand weiterhin als kritisch. Die Polizei gab gestern bekannt, dass die Bodycams der beiden Polizeibeamten ausgeschaltet gewesen sind, sodass keine Videoaufnahmen existieren.

Argumente aus den Fingern saugen

Innerhalb von jetzt nur einer Woche, hat sich die Polizei samt ihrer Pressemitteilungen viel zusammengereimt, um den Einsatz zu legitimieren und lässt gleichzeitig viele zentrale Fragen offen. Dr. Rafael Behr, Professor für Polizeiwissenschaften aus Hamburg in Ruhestand, wird in der Frankfurter Rundschau Online mit diesen Worten zitiert: „Denn in Situationen, in denen Messer im Spiel sind, fackeln Polizisten oft nicht lange. Dann heißt es: Messer weg, Messer weg! Alles geschieht in hoher Lautstärke, in hohem Tempo. Das kann zur weiteren Eskalation führen.“ Dass das Mädchen gehörlos ist, wusste die Polizei jedoch schon den gesamten Tag über, als sie der Vermisstensuche nachgegangen sind. Gleiches gilt dafür, dass sich das Mädchen aufgrund der Umstände, dass sie aus der Wohngruppe verschwunden und vermisst wurde, in einem psychischen Ausnahmezustand befunden hat. Warum die Polizei dann in eine Wohnung zum Einsatz ohne Gebärdendolmetscher geht, in der zwei gehörlose Menschen vermutet werden, bleibt offen. Laut der Polizei in Essen hieß es, dass eine Kommunikation mit Gehörlosen gut möglich sei – „durch Apps, mit Zettel und Stift oder Händen und Füßen.“ Doch in Anbetracht des Vorfalls zeigt sich der zynische Charakter dieser Aussage. Denn sowohl das Mädchen als auch die Mutter waren schlichtweg nicht in der Lage, die Polizisten zu hören und auch nur ansatzweise verstehen zu können, warum und wieso sie in diese Situation geraten sind. Auch zu klären ist dabei, wieso zwei Polizisten dann so schnell sowohl mit einer Schusswaffe als auch mit einem Taser gleichzeitig auf ein zwölfjähriges Mädchen losgehen. Am 25.11. veröffentlichte der Rechtsanwalt des Mädchens eine Pressemitteilung. Darin kritisiert er das Vorgehen und die Berichterstattung der Polizei scharf. „Den Gesundheitszustand konkret als „kritisch, aber stabil“ zu bezeichnen, während meine Mandantin um ihr Leben kämpft und ohne, dass zuvor eine Weitergabe von medizinischen Details an die Behörden erfolgte, schafft auf Seiten der Familie meiner Mandantin jedenfalls kein Vertrauen in eine objektive Ermittlung der Geschehnisse und lässt an der Neutralität der ermittelnden Behörden leider grundlegend zweifeln.“ – so die Stellungnahme. Auch stellt er in Frage, dass dem Schusswaffengebrauch ein „Messerangriff“ vorausgegangen ist, denn bis dato existieren weder Zeugenaussagen, Bodycam Aufnahmen, noch konnte das Mädchen selbst aufgrund ihres gesundheitlichen Zustandes befragt werden. Dabei betonte er bereits, dass die Familienangehörigen ihm gegenüber einen grundlegend anderen Sachverhalt schildern, als es die Polizeibehörden tun und lässt zentral an der bisherigen Darstellung einer vermeintlichen Notwehrsituation zweifeln.

Was können wir von den Ermittlungen erwarten?

„Wie genau es in der Situation zum Schusswaffeneinsatz kam, müssen die folgenden Ermittlungen zeigen. Aus der Ferne lässt sich schwer diagnostizieren, was schiefgelaufen ist.“, so der Kriminologe Dirk Baier. Die Polizei gab bereits bekannt: „Aus Neutralitätsgründen hat die Essener Mordkommission die Ermittlungen übernommen.“ Beide Beamte seien im Moment von Dienst freigestellt. Wie üblich, geben sich die Polizeibehörden damit zufrieden, die Aufklärung des Falls an eine andere Polizeibehörde weiterzugeben. Ein Blick in § 63 Abs. 3 des Polizeigesetzes in Nordrhein-Westfalen zeigt uns: „Gegen Personen, die dem äußeren Eindruck nach noch nicht 14 Jahre alt sind, dürfen Schusswaffen nicht gebraucht werden. Das gilt nicht, wenn der Schusswaffengebrauch das einzige Mittel zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib und Leben ist.“ Ob sich zwei voll ausgestattete Polizeibeamte – und die Liste an mitgetragenen Gewaltmitteln ist bekanntlich lang – gegen ein zwölfjähriges Mädchen mit Taser und Schusswaffe als einziges Mittel wehren konnten, bleibt hier äußert fraglich. Klar ist jedoch, dass die Polizeibehörden alles daran tun werden, diesen Fall schnell unter den Tisch zu kehren. Denn erwarten lässt sich nicht, dass die Polizeibeamten derselben Institution nur ein paar Orte weiter so gegen ihre Kollegen ermitteln, dass Ihnen ansatzweise reale Konsequenzen drohen. Nach Angaben vom RND starben 2024 22 Menschen und dieses Jahr 16 Menschen (bis Mitte Juli) durch Polizeischüsse. Auffällig dabei ist, dass sich davon zwei Drittel bis drei Viertel der Polizeitoten in Deutschland „in einer psychischen Krise“ befunden haben, als sie getötet wurden. Ein deeskalierendes Verhalten der Polizisten gilt in solchen Fällen als essentiell, bekannt ist dabei schon lange, dass das Androhen oder gar das Durchsetzen von Gewalt zum Gegenteil führt. Der Fall in Bochum zeigt uns einmal mehr, dass das Personal der Polizei nicht nur nicht in der Lage ist, mit jenen Situationen umzugehen, sondern dass sie schlichtweg auch nicht in der Lage sein müssen, wenn sie doch jederzeit zur Waffe, Pfefferspray oder zum Taser greifen können. Das Problem liegt dabei nicht in der fehlenden Schulung oder Sensibilisierung der Polizei, denn sie tut vielmehr genau das, was sie soll. Er zeigt uns die Normalität von dem, wie Schüsse gegen ein psychisch belastetes und gehörloses zwölfjähriges Mädchen gerechtfertigt werden und als „Notwehr“ abgetan werden. Denn hier handelt es sich nicht um eine tragische Verkettung von Ereignissen, sondern die Polizei tritt als Gewaltapparat vielmehr offen zu Tage.