Während die IGBCE demnächst mit ihrer Forderungsfindung beginnt, hat die Kapitalseite über den Bundesarbeitgeberverband Chemie bereits die Verhandlungen mit ihrer Forderung nach einer „Atempause jetzt!“ gestartet.
Sie stellt fest, dass „gegenüber 2018 die Produktion bei Chemie und Pharma um 15 % eingebrochen“ ist, und sieht als Gründe „schwache Nachfrage, hohe Energiekosten, Unsicherheiten über US Zölle sowie ausufernde Bürokratie“, aber natürlich auch „hohe Kosten für Arbeit“, die die Chemie-Branche in einen „kritischen Zustand“ gebracht hätten; sie sind sich nicht einmal zu schade, zu behaupten, die Branche stehe „unter existenziellem Druck“, weshalb „die Sozialpartner Verantwortung übernehmen“ müssten. Die Lage führe nämlich „zu einem Rückgang der Beschäftigtenzahlen in der chemischen Industrie“.
Als Lösung sieht die Kapitalseite „mehr Produktivität, statt steigende Entgelte“ und stellt nochmal klar: „Es gibt kein Wachstum. Es gibt keinen Aufschwung. Es gibt keinen Verteilungsspielraum. Im Gegenteil: Den Betrieben steckt die Entgelterhöhung um 4,85 Prozent vom April 2025 noch in den Knochen“. Damit nicht genug, behaupten die Chemiebosse: „Machen wir Arbeit noch teurer, verschärfen wir die Krise und stellen noch mehr gut bezahlte Arbeitsplätze ins Risiko“. Geht es nach den Darstellungen des deutschen Chemiekapitals, ist die Chemiebranche kurz vor dem Abgrund, ist kaum noch in der Lage, ihre Kosten zu decken, weshalb die nächste Tariferhöhung das Ende der Chemiebranche in Deutschland besiegeln könne.
Doch ist dem so? Wer sich nicht zum ersten Mal in einer Tarifrunde befindet, kennt den Spruch, dass „ein Arbeitgeber, der nicht über die wirtschaftliche Lage klagt, kein guter Arbeitgeber“ ist. Dennoch wird die aktuelle Situation sicherlich auch die tariferprobteren Kolleginnen und Kollegen ins Grübeln bringen, passen doch zu den Klageliedern des Chemiekapitals auch die Meldungen über die volkswirtschaftlichen Entwicklungen in Deutschland. Klarheit bringt ein Blick in die Zahlen des Verbands der Chemischen Industrie (VCI): Dass die Produktion gegenüber 2018 um 15 % zurückgegangen ist, ist richtig. Richtig ist aber auch, dass 2018 das produktionsstärkste Jahr seit 1995 war. Die Produktionszahlen von 2024 liegen ungefähr auf dem Stand von 2005 und zugleich oberhalb der Produktionszahlen vom Wirtschaftskrisenjahr 2009. Hinzukommt, dass die Produktion im Vergleich zum Vorjahr stabil geblieben ist, also nicht weiter abstürzt.
Dennoch, könnte man meinen, deutet ein Rückfall auf die Produktionszahlen von 2005 auf eine schlechte Lage hin. Doch allein der Blick auf die Produktionszahlen genügt nicht; schließlich produziert das Chemiekapital nicht der Produktion, sondern des Profits willen. So stieg der reine Umsatz seit 1998 kontinuierlich an, inflationsbereinigt ist er weitestgehend stabil und lag 2024 in etwa auf dem Niveau von 2020. Das von den Sprechern des Chemiekapitals gezeichnete Bild wird nicht nur noch weiter relativiert, sondern ins Gegenteil verkehrt, wenn wir die Arbeiter mit in unsere Betrachtungen einbeziehen, was die Chemiebosse tunlichst vermieden haben. Denn lag der Anteil der Entgelte am Umsatz 1994 noch bei fast 19 %, sind es heute nur noch 15,3 %. Von 1998 bis 2018 stieg die Produktivität um über 50 %, die Entgelte jedoch noch nicht einmal um 16 %. Und auch das war nicht von Dauer, denn seit 2019 sind die Reallöhne pro Chemiearbeiter um gut 6,5 % zurückgegangen.
Und wie sieht es bei dem anderen „Sozialpartner“ aus? Bei Betrachtung der Zahlen seit der Jahrtausendwende lässt sich kein Jahr finden, in dem die Branche keine Profite abgeworfen hat. Im Schnitt lag die Nettoumsatzrendite bei 7,2 %. Auch im Jahr 2022 noch – neuere Zahlen sind im VCI-Bericht nicht veröffentlicht – lag die Nettoumsatzrendite bei soliden 5,2 %. Der Jahresüberschuss der Konzerne wächst; der pro Arbeiter erzielte Jahresüberschuss wächst dabei sogar doppelt so stark.
„Die Analyse der aktuellen Lage ist“ also in der Tat „eindeutig“, jedoch nicht so, wie es die Chemiebosse behaupten. Es sind nicht die Konzerne, die eine „Atempause“ benötigen, sondern die Arbeiter. Insbesondere, nachdem die Industriegewerkschaften als „Sozialpartner“ „Verantwortung übernommen“ haben, indem sie sich im Interesse der Konzerne für den Brückenstrompreis eingesetzt haben, wodurch die Industrie – aber nicht die Haushalte – nun durch die Senkung der Stromsteuer die nächste Strompreissubvention durch die öffentliche Hand bekommt, wäre es Zeit, dass der andere „Sozialpartner“ nun „Verantwortung übernimmt“. Dass dieser sich für diesen Einsatz dadurch bedankt, dass er „mehr Produktivität, statt steigende Entgelte“ fordert, darf nicht nur den Chemie- und Pharmaarbeitern ein weiteres Beispiel dafür sein, wofür „Sozialpartnerschaft“ steht: Die Arbeiterinnen und Arbeiter vor den Karren des Kapitals zu spannen.
Deshalb sind die Chemie- und Pharmaarbeiter gut beraten, wenn sie nicht auf die Märchen der „Sozialpartnerschaft“ derer hören, die nur Klagelieder über ihre vermeintlich schlechte Lage anstimmen, jedoch über die seit sechs Jahren andauernden Reallohnkürzungen der Arbeiter kein Wort verlieren. Die Kolleginnen und Kollegen der Stahlindustrie haben den Fehler gemacht, auf diese „Partnerschaft“ zu setzen und wurden dafür mit weiteren Reallohnverlusten belohnt (siehe AZ vom Oktober 2025). Die Chemie- und Pharmaarbeiter haben die Chance, sich mit starken Forderungen gegen diesen Trend zu stemmen – und damit auch ihren Kolleginnen und Kollegen in der Metall- und Elektroindustrie Schützenhilfe zu leisten. Die Forderungsfindung beginnt ab November, doch die Diskussion in den Betrieben startet bereits. Lassen wir unsere Stimme nicht ungehört!




