Jugendbewegung in der Türkei: Der Widerstand geht weiter

Nach der Verhaftung der Istanbuler Oberbürgermeisters İmamoğlu und den großen Protesten, die wir auch in Deutschland gespannt verfolgten, stand auf dem 22. Jugendcamp in diesem Sommer eine zentrale Frage im Raum: Wie weiter?

Repression und Verfolgung, die Ausbeutung von Mensch und Natur nehmen zu und der Aufbau eines faschistischen Regimes tritt immer deutlicher hervor. Gleichzeitig nimmt der Unmut in der Bevölkerung zu und die Bereitschaft zum Widerstand wächst – sichtbar war dies auf den Straßen bei den 19. März-Protesten und auch hier auf dem 22. Jugendsommercamp, das in diesem Sommer 1.200 junge Menschen aus der Türkei zusammenbrachte.

Zwischen Hoffnungslosigkeit, Individualismus & Widerstand – wie kam es zu den 19. März-Protesten?

In der Arbeitsgruppe „Politische Ökonomie“, die sich über die gesamte Woche des Camps erstreckte, wurden aktuelle Entwicklungen wie Trumps Zölle, Globalisierung, Digitalisierung und Künstliche Intelligenz sowie die zunehmende Zentralisierung des Kapitals behandelt. Dabei wurde ein umfassendes Portrait der Jugend in der Türkei gezeichnet: Seit 2009 steigen die Jugendselbstmordraten, während die Geburtenraten zurückgehen. Die ökonomische Perspektive ist schlecht – egal ob als Arbeiter in der Automobilindustrie oder mit akademischem Abschluss, die Löhne reichen kaum für die Lebenshaltungskosten, jeder dritte Hochschulabsolvent ist arbeitslos. Ein sozialer Aufstieg ist praktisch unmöglich. Immer mehr junge Menschen durchschauen die Lüge, man müsse sich nur genügend anstrengen, um es zu schaffen. Die Folge: Vier von fünf Jugendlichen bezeichnen sich als unglücklich.

Dieser Unmut führt immer wieder zur Suche nach individuellen Auswegen. Nicht wenige haben die Vorstellung, in Deutschland bessere Studien- oder Ausbildungsmöglichkeiten zu finden. Denn Europa gilt immer noch als Traum, als Ort ökonomischer Chancen und freierer Forschung. Auf der anderen Seite bildet der Unmut den Nährboden für den Widerstand: Die Proteste rund um den 19. März in der Türkei zeigten, wie Widerstand möglich ist. Sie machten vielen Mut – auch denjenigen, die ausgewandert sind, weil sie in der Türkei keine Möglichkeit der Veränderung sahen. Denn nicht nur die hoffnungslos erscheinende Lage der Jugend, sondern auch die kontinuierliche Organisierung und konkrete Ereignisse wie Femizide, die Zwangseinsetzung von Professoren oder der Tod einer Studentin in einem Fahrstuhl hatten bereits zuvor Protestwellen ausgelöst und bereiteten die Bewegung im März vor. Diese Proteste stellten einen Bruch dar und machten deutlich: Die einzige Lösung kann für uns nur das Kollektiv und der gemeinsame Kampf sein.

Generalstreik, Generalwiderstand – wie können wir die Kämpfe ausweiten und verbinden?

Die Proteste begannen vor allem an den Universitäten. Große Studierendenproteste hat es in der Türkei schon viele gegeben, doch diesmal trugen sie ein neues Potential: Auf einem Podium mit anderen Jugendorganisationen wurde klar, dass sich die Situation so zugespitzt hatte, dass die Hoffnung auf Wahlen keine Option mehr darstellte und selbst die CHP sich gezwungen sah, den Protest auf die Straße zu tragen. Die Studierenden blickten auf die Organisation der Proteste und ihre kontinuierliche politische Arbeit an den Universitäten: Die Mobilisierung begann hier oft in kleinen WhatsApp-Gruppen mit acht bis zehn Personen, die dann Treffen organisierten, von denen aus zu Demos mit Tausenden mobilisiert wurde. Die Fakultäten erwiesen sich dabei als zentrale Orte für die Organisierung. In „Boykott-Foren“ kamen die Studierenden während der Proteste in großen Runden zusammen, diskutierten ihre Forderungen und dachten darüber nach, wie sie sich die Universität eigentlich vorstellen.

Deutlich an den Protesten wurde aber auch, dass Studierende zwar Vorbild sein können, doch dass der Protest nur dann wirklich eine Kraft entfalten kann, wenn er sich mit den Arbeitern verbindet. Dabei muss er kontinuierlich organisiert und inhaltlich gestärkt werden: nicht nur blind in Konfrontation mit der Polizei, sondern getragen von klaren Forderungen, von einer anti-imperialistischen Ausrichtung, die auch die Abhängigkeit der Türkei von internationalen Konzernen und imperialistischen Staaten in den Blick nimmt. So drehte sich das Camp immer wieder um die zentrale Frage: Wie aus den Protesten der letzten Monate lernen, wie weitermachen und vor allem wie den Protest an den Universitäten auf die Arbeiterklasse ausweiten? Besonders die Parole „Generalstreik“, die in Istanbul ausgerufen wurde, kurz bevor die Polizeibarrikade durchbrochen wurde, zeigte, dass die Studierenden die Verbindung von Protest mit Streikbewegungen und dem Kampf der Arbeitenden bereits im Blick haben. Trotzdem muss hier weiter nach praktischen Verbindungen gesucht werden. Dabei rückte auch der anti-imperialistische Kampf näher in den Fokus, denn Praktika in NATO-Institutionen, Verbindungen der Universitäten zum Militär und die Rolle der Türkei im Genozid in Gaza sind Themen, die Studierende betreffen. Die Idee entstand, Tage des anti-imperialistischen Widerstands mit Kultur, Theater und Tanz an den Universitäten zu organisieren.

Frauenwiderstand: Liebe und Kollektiv statt Jahrzehnt der Familie

Eine zentrale Botschaft, die aus dem Austausch studierender Frauen mit der Abgeordneten Sevda Karaca hervorging, lautete: Wir müssen die Frauen für den Kampf gewinnen, denn ohne sie wird es keinen Widerstand geben. Denn im Prozess der Faschisierung sind es die Frauen, die im Zentrum der Ausbeutung stehen, doch oftmals fällt es noch schwer, sie zu erreichen. Deshalb muss die Frage gestellt und beantwortet werden: Was macht unsere Freundinnen, unsere Schwestern, unsere Mütter so hoffnungslos? Was bedrückt sie im Alltag?

Immer wieder spielte dabei im Austausch das Gefühl der Einsamkeit eine Rolle, ebenso wie die Erfahrung, außerhalb von Ehe oder Familie nichts wert zu sein. Dem muss etwas entgegensetz werden, indem aufgezeigt wird, dass Frauen als Arbeiterinnen bereits Teil eines Kollektivs sind und dieses Kollektiv erfahrbar zu machen. Dazu gehört auch, genau hinzuschauen, wo Frauen täglich im Stich gelassen werden und diese Erfahrungen aufzugreifen, um im gemeinsamen Alltag gemeinschaftliche Alternativen aufzubauen. Um Selbstbewusstsein und Stolz aufzubauen, die Ohnmacht zu überwinden, die viele empfinden, und Frauen für den Widerstand zu gewinnen, müssen wir auch Gefühle zulassen: Wir brauchen Liebe, Kollektiv und eine klare Perspektive auf ein gutes Leben. Nur so können wir auch dem Scheinbild der Familie als angeblichem Zufluchtsort und Ort des Friedens etwas entgegensetzen, das von der Erdogan-Regierung als „Jahrzehnt der Familie“ proklamiert wird. Ebenfalls müssen breite Frauenbündnisse geschmiedet werden, die durch gemeinsame alltägliche Forderungen verbunden sind und gemeinsam handeln. Unterschiede dürfen uns dabei nicht trennen.

In den Betrieben: Den Generalstreik vorbereiten

Besonders eindrücklich wurde in Mehmet Türkmens Vortrag die Rolle der Arbeiterklasse in der aktuellen Situation deutlich: Erdoğan versucht, das Land wie ein Unternehmen zu führen. Die Arbeiterinnen und Arbeiter sowie unterdrückte Völker sollen noch mehr ausgepresst werden, Gesetze und sogar die Verfassung werden im Sinne dieser Ausbeutung umgeschrieben, Institutionen und Bürokratie werden nach und nach den Profitinteressen angepasst. Der Hoffnungslosigkeit, die viele Menschen erfasst, muss eine klare Perspektive entgegengesetzt werden: Nur die Arbeiterklasse kann die Zukunft erkämpfen! Das bedeutet konkret: Die Kämpfe in verschiedenen Regionen zu verbinden, die Perspektive im Betrieb sichtbar zu machen und die Menschen aufgrund ihrer Stellung im Klassensystem anzusprechen und nicht aufgrund von Herkunft, politischer Einstellung oder Religion. Nur so kann die notwendige Einheit entstehen, um den Generalstreik vorzubereiten und das System direkt anzugreifen.

Wie drängend diese Aufgabe ist, zeigte sich im Austausch mit jungen Arbeitern: Besonders das MESEM-Programm stand im Mittelpunkt, das die Genossen unmissverständlich als Kinderarbeit bezeichneten. MESEM-Schüler erhalten gerade einmal ein Drittel des ohnehin schon viel zu niedrigen Mindestlohns (dieser liegt in der Türkei unterhalb der Armutsgrenze). Hinzu kommt, dass die Jugendlichen vollkommen schutzlos sind, denn immer wieder kommt es zu tödlichen Übergriffen, bei denen mehrere Kinder bereits ermordet wurden. Eine Ausstellung zu sogenannten „Arbeitsmorden“ verdeutlichte die Dimension der Ausbeutung zusätzlich. Damit bezeichnen die Genossen die Tode von Arbeitern, die aufgrund fehlender Sicherheitsausrüstung ums Leben kommen. Jeden dritten Tag wird ein Arbeiter in der Türkei auf diese Weise ermordet.

Ein Camp, das Mut macht

Die kleine Zelt-Stadt zwischen den Bäumen direkt am Meer, mit den aufgespannten Banner, die von den vergangenen Kämpfen berichteten, und den vielen Fotos von Streiks, Aktionen und wichtigen Persönlichkeiten verlassen wir nicht ohne die wunderbare Stimmung. Nicht nur während des Abendprogramms, als ausgelassen Halay zu allen möglichen Liedern getanzt wurde, oder auch immer wieder in der Begegnung mit den Genossen. Es beeindruckte uns, wie zuversichtlich und fröhlich die Stimmung war, obwohl die Lage alles andere als leicht ist und ernste Diskussionen geführt wurden. Auch beim Abschied war das Bild, trotz ein paar Abschiedstränen nach dieser wundervollen gemeinsamen Zeit, überwiegend von Fröhlichkeit, Zuversicht und Entschlossenheit geprägt. Dies zeigt einmal mehr, dass die genaue Analyse der Situation uns nicht nur die Gefahr, sondern auch die Möglichkeiten zum Widerstand aufzeigt.

In den Diskussionen konnten wir auch verdeutlichen, dass auch in Deutschland, entgegen den Vorstellungen vieler Jugendlicher in der Türkei, die Lage keineswegs einfach ist: Lebenshaltungskosten steigen, Mieten explodieren, die Repression gegen Friedensdemonstrierende nimmt zu. Für Migranten und Geflüchtete ist die Situation noch prekärer. Dazu kommen der Rassismus und zunehmende Nationalismus, der viele junge Menschen auch in Deutschland über eine Auswanderung nachdenken lässt. Doch auch in Deutschland gilt: Wir müssen für ein gutes Leben kämpfen! Im Austausch konnten wir also von unseren Kämpfen in Deutschland berichten, von gewerkschaftlicher Organisierung, von den Rechten, die Auszubildende hier erstritten haben, wie Jugend- und Auszubildendenvertretungen oder die Mindestausbildungsvergütung. Auch im Kampf für Demokratie sollten wir die internationalen Verflechtungen nutzen: Wenn die SPD als Schwesterpartei der CHP zusieht, wie deren Vorsitzender inhaftiert wird, sich mit leeren Solidaritätsbekundungen begnügt und als Regierung die Zusammenarbeit mit dem Erdoğan-Regime noch weiter ausbaut, müssen wir das in Deutschland skandalisieren. Und wenn wir sehen, dass deutsche Konzerne von der Ausbeutung und Kinderarbeit in der Türkei profitieren, müssen wir das ebenfalls aufdecken. Es gilt, den gemeinsamen Kampf der Jugend über Ländergrenzen hinweg zu stärken!

Besonders eindrücklich wird uns der Beitrag eines MESEM-Schülers beim Abschluss-Panel in Erinnerung bleiben, der zusammenfasst, was durch das Camp erreicht werden konnte: „Ich bin als Arbeiter gekommen, durch das Camp bin ich organisiert und habe den Sozialismus für mich entdeckt – und gehe als Organisierter zurück in meinen Betrieb.“