Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“ – so der berühmte Ausspruch des Kaisers Wilhelm II. beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Es war ein Angebot an die Arbeiterbewegung und ihre Führung, die SPD. Ein Angebot, alle politischen Streitigkeiten beiseitezulegen. In der Zeit des Krieges gelte nur die nationale Einheit. Die SPD machte mit – der sogenannte Burgfrieden wurde geschlossen. Keine Streiks, keine Demonstrationen, kein Klassenkampf, bis der Krieg vorbei war. Doch es kam anders. Schon nach wenigen Jahren dämmerte es großen Teilen der Arbeiterklasse: Dass sie sich nicht nur ihr wichtigstes Kampfmittel hatten nehmen lassen, sondern unter dem Vorwand des Burgfriedens ihr Leben und Tod in die Hände des Klassenfeindes gelegt hatten. Millionen Arbeiter waren in den Tod gegangen, bis dem Ersten Weltkrieg mit der Novemberrevolution durch aufständische Soldaten, Matrosen und Arbeiter ein Ende gesetzt wurde.
Der imperialistische Krieg pausiert den Klassenwiderspruch nicht – im Gegenteil, er spitzt ihn bis aufs Äußerste zu, wenn Millionen Arbeiter in den Krieg ziehen und ihr Leben und Tod an die Verhandlungen der Herrschenden knüpfen. Der Vergleich mit dem Ersten Weltkrieg scheint zunächst weit hergeholt. Doch ein Blick auf die Ukraine nach über dreieinhalb Jahren Krieg bestätigt diese Wahrheit.
Die ersten Proteste seit 2022
Es waren Widersprüche, die schon lange bestanden und 2025, trotz andauerndem Krieg, an die Oberfläche brachen. Nachdem die Selenskyj-Regierung unter dem Vorwand des russischen Einflusses versuchte, die beiden Anti-Korruptionsbehörden Nabu und Sap aufzulösen, gingen im Juli diesen Jahres tausende Ukrainer auf die Straßen. Die Protestwelle führte dazu, dass das Gesetz eine Woche später wieder rückgängig gemacht werden musste. Korruption ist ein Dauerthema in der Ukraine und die heutige Regierung nimmt einen großen Teil ihrer Legitimität aus dem Versprechen, für eine demokratischere Ukraine zu stehen. Die beiden Behörden, die aufgelöst werden sollten, wurden nach dem Euro-Maidan 2013 gegründet. Die damalige Regierung, die der russischen Oligarchie nahestand, war aus dem EU-Assoziierungsabkommen ausgetreten. Doch die Mitgliedschaft in der EU und die Annäherung an den Westen symbolisierte damals wie heute für viele Ukrainer die Hoffnung auf eine demokratischere, rechtstaatliche Ukraine. Seit jeher ist der Kampf gegen Korruption also ein sensibles Thema und war auch bei Selenskyjs Wahlsieg nicht unerheblich. Auch die breite Unterstützung für den Kurs der Regierung im Krieg ist nicht unabhängig von dieser Hoffnung auf eine andere Ukraine.
Umso brisanter ist natürlich, dass im November diesen Jahres ausgerechnet enge Vertraute und Regierungsbeamte Selenskyjs im Mittelpunkt eines durch die Antikorruptionsbehörden ermittelten Skandals stehen. Es geht um die Bereicherung an Geldern, die zum Schutz des Stromnetzes vorgesehen waren, und zwar in Zeiten, in denen die Ukrainer mit ständigen Stromausfällen zu kämpfen haben. Medien sprechen von einer Bedrohung für die Staatlichkeit in der Ukraine, Selenskyjs Umfragewerte fielen in einigen Statistiken von 60 auf unter 20 Prozent. Die Skandale bringen an die Oberfläche, was vielen Ukrainern ohnehin bewusst ist: Die Ungleichheit, die Bereicherung, die Interessensgegensätze sind auch in Kriegszeiten nicht verschwunden. Dennoch werden sie allzu häufig beiseitegeschoben, um Russland nicht in die Hände zu spielen. So machten auch die Protestierenden im Juli immer wieder klar, dass die Proteste in jedem Fall friedlich bleiben würden: „Es gab einige Leute, die die Amtsenthebung forderten, aber die große Mehrheit sagte: ‚Haltet den Mund, wir untergraben nicht die Legitimität des Präsidenten, sondern der rechtmäßige Präsident hat einen Fehler gemacht‘“, zitiert The Guardian Inna Sovsun, eine Abgeordnete der Oppositionspartei Holos, die an mehreren Protesten teilgenommen hatte.
Klassenkampf in Kriegszeiten
Es ist dieser Widerspruch, in dem sich auch die Arbeiterbewegung und die Gewerkschaften in der Ukraine seit Kriegsbeginn befinden. Sie würden zwei Kämpfe zugleich austragen, heißt es da häufig. Einerseits wird sich gegen den russischen Angriffskrieg verteidigt, andererseits gegen die sozialen Angriffe der Regierung: Unter Kriegsrecht sind seit 2022 Demonstrationen und Streiks verboten. Arbeitsschutzgesetze wurden und werden eingeschränkt. 2025 wurde das „Haus der Gewerkschaften“, der zentrale Sitz des größten Gewerkschaftsbundes der Ukraine, der FPU (Föderation der Gewerkschaften der Ukraine), in Kiew beschlagnahmt. Der Präsident, Grygoriy Osovyi, wurde verhaftet. Dabei muss klar sein, dass die Angriffe keineswegs erst seit Kriegsausbruch begonnen haben – vielmehr wird der Krieg genutzt, um die Angriffe auf die Arbeiterklasse zu eskalieren und den Widerstand zu brechen. Konkret berichtet Eisenbahner und Gewerkschafter Oleksandr Skyba aus Darnyzja: Die Eisenbahner seien als Arbeiter in der kritischen Infrastruktur teils vom Kriegsdienst ausgenommen. Aktiven Arbeitervertretern wird jedoch „nahegelegt, den Mund zu halten, wenn man nicht an die Front möchte“. Sonst kann es sein, dass die Unternehmensleitung sie auf den Listen der unverzichtbaren Arbeiter, die sie dem Staat übermittelt, in Zukunft „vergisst“.
Obwohl die Angriffe auf die Arbeiterklasse zugenommen haben, seitdem die Ukraine sich mehr am Westen orientiert, stehen viele Gewerkschaften offiziell an der Seite ihrer Regierung im Kampf gegen die russische Invasion. „Das Wichtigste ist, dass wir so bald wie möglich Frieden und Sicherheit herstellen, indem wir die russische Aggression besiegen. Danach wird der demokratische Prozess wieder seinen Lauf nehmen“, sagt Petro Tulei, Co-Vorsitzender des zweiten großen Gewerkschaftsbundes KVPU (Konföderation Freier Gewerkschaften der Ukraine), dem Jacobin-Magazin. In einer Pressemitteilung heißt es zu im Krieg gefallenen Mitgliedern: „Sie gaben ihr Leben, damit wir in einem freien Land leben können“.
Natürlich gibt es auch andere Kräfte, die den Krieg nicht unterstützen – diese sehen sich jedoch dem Vorwurf ausgesetzt, Russland in die Hände zu spielen. Zahlreiche von ihnen mussten das Land verlassen, wurden verfolgt, einige ermordet. Die offenen Stimmen gegen den Krieg sind damit auch in der Gewerkschaftsbewegung und vor allem in den deutschen Medien kaum zu hören. Eine von ihnen, Maxim Goldarb, Vorsitzender der seit Kriegsbeginn verbotenen Partei „Union der Linken Kräfte – Für einen neuen Sozialismus“, richtete sich 2024 in einem offenen Brief aus dem Exil an die „Sozialistische Internationale“ (internationaler Zusammenschluss, in dem unter anderem die SPD vertreten ist). Er listete Fälle von verfolgten und verhafteten Linken in der Ukraine auf und forderte internationale Unterstützung ein – der Brief blieb unbeantwortet. Nicht nur seine, sondern auch 12 andere Parteien wurden 2022 verboten. Unter dem Vorwand der Unterstützung der russischen Invasion wurden Kriegsgegner verschiedenster Lager ins Visier genommen. Es war auch diese Repression, mit der der Burgfrieden aufrechterhalten werden konnte, den so viele ukrainische Arbeiter seit über dreieinhalb Jahren mittragen – trotz riesiger Opfer.
28 Punkte und ein hoher Preis
Auch die neuen Korruptionsskandale bergen das Potential, die Unzufriedenheit in die Höhe zu treiben und den Burgfrieden einen Stoß zu versetzen. Blickt man auf Umfragen in der Ukraine, so zeichnen diese bereits seit Monaten ein durchmischtes Bild – auch in Bezug auf den Krieg und sein mögliches Ende. Die Tendenz: Je länger der Krieg andauert, desto mehr Bereitschaft für Verhandlungen und auch die Option von Gebietsverlusten zeichnet sich ab. Immer wieder tauchen Verhandlungslösungen für den Krieg am Horizont auf – und verschwinden dann wieder.
Der zuletzt an die Öffentlichkeit dringende 28-Punkte-Plan der Trump-Regierung soll vorsehen, dass große Teile des östlichen Donbass unter russische Kontrolle geraten, auch diejenigen, die noch unter ukrainischer Kontrolle stehen. Andere Aspekte sollen die Halbierung der Armee und Russisch als Landessprache sein. Gleichzeitig fordert die EU ein Mitspracherecht über das Kriegsende. Und auch Friedrich Merz steht wieder mit Forderungen an die ukrainische Regierung auf dem Parkett – zuletzt Mitte November, als er Selenskyj aufforderte, die Ausreise junger Ukrainer zu verhindern: „Ich habe ihn gebeten, dafür zu sorgen, dass diese jungen Männer im Land bleiben, weil sie im Land gebraucht werden und nicht in Deutschland. Wir brauchen jeden, der anpacken kann, mithelfen kann bis hin zum Militärdienst in der Ukraine“, so Merz. Es wird deutlicher als je zuvor, dass die Zukunft der ukrainischen Arbeiterklasse und Jugend überall entschieden wird, aber nicht in Kiew.
Zwar wurde das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in der Ukraine 2022 ausgesetzt, seit August 2025 dürfen wehrpflichtige Ukrainer jedoch wieder ausreisen. Seitdem hat sich die Zahl der ankommenden in Deutschland zwischen 18 und 22 verzehnfacht. Die Ausreiselockerung soll es auch ermöglichen, das ausgereiste Ukrainer wieder zurückkehren und die Ausbildung für junge Ukrainer verbessern, um für die Zeit nach dem Krieg vorbereitet zu sein.
Ein junger ukrainischer Soldat sagt dem oppositionellen russischen Online-Portal Meduza: „Wenn ich [an der Stelle der Politiker] wäre, hätte ich ehrlich gesagt schon eine Einigung erzielt. Ich möchte einfach nur, dass der Krieg endet.“ Gleichzeitig gesteht er ein: „Es wäre psychologisch schwierig für mich, Putins Bedingungen zu akzeptieren (…) Wir werden sowieso bis zum Ende hier bleiben. Wir müssen kämpfen. Was können wir sonst tun?“ Seine Freundin ergänzt: „So viele Menschen wurden getötet! Mütter werden fragen: ‚Wofür hat mein Sohn gekämpft?‘“
Diejenigen, die seit Kriegsbeginn in der Ukraine Waffenlieferungen zur Selbstverteidigung gefordert und Kriegsgegner mit den Vorwürfen konfrontiert haben, sie würden das Selbstbestimmungsrecht der Ukrainer untergraben, werden sich einige Fragen gefallen lassen müssen: In welchem Szenario hätte eine Arbeiterklasse, deren Lebens- und Arbeitsbedingungen sich rapide verschlechtern, deren Organisationen gezähmt oder zerschlagen wurden, die statt von russisch-orientierter heute von westlich-orientierter Korruption bestohlen wird, in welchem Szenario hätte diese Arbeiterklasse diesen Krieg gewinnen können? In welchem Szenario hätte eine Arbeiterklasse, über deren Schicksal entweder in Moskau oder Washington und Berlin entschieden wird, diesen Krieg gewinnen können? Und heute, hunderttausende Tote später: In welchem Szenario wäre es das wert gewesen?




